Stellungnahme zur zweiten Staatenprüfung Deutschlands durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung bzgl. der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention

faviconHier: Artikel 28 – Angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz

Am 29. und 30. August 2023 fand die zweite Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung (CRPD) in Genf statt. Am 3. Oktober veröffentlichte der CRPD seine endgültigen abschließenden Bemerkungen zum aktuellen Stand der Umsetzung.

Hinsichtlich der Anrechnung von Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen attestiert der CRPD Deutschland ein mangelhaftes Ergebnis (S. 13, aus dem Englischen übersetzt):

Der Ausschuss ist besorgt darüber,

[…]

(c) dass das Leistungssystem der Eingliederungshilfe durch die Berücksichtigung des Vermögens und Einkommens von Menschen mit Behinderungen und anderen Haushaltsangehörigen das gleichberechtigte Sparen mit anderen behindert und die finanzielle Sicherheit älterer Menschen gefährdet.

Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat:

[…]

(c) Die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen so zu überarbeiten, dass sie gleichberechtigt mit anderen sparen können und ihre finanzielle Sicherheit im Alter gewährleistet wird.

Die finanziellen Auswirkungen der vollständigen Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung sind abschließend untersucht worden. Zudem betrifft die Anrechnung nur noch 3% der Eingliederungshilfeberechtigten (siehe Stellungnahme zum Bericht der Bundesregierung bzgl. Stand und Ergebnisse der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 bis 4 des Bundesteilhabegesetzes). Daher fordern wir die unverzügliche Abschaffung der Einkommens- und Vermögensheranziehung.

Link zur PDF-Version der Stellungnahme: PDF-Dokument

Stellungnahme zum Bericht der Bundesregierung bzgl. Stand und Ergebnisse der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 bis 4 des Bundesteilhabegesetzes

faviconDie Bundesregierung veröffentlichte Ende des Jahres 2022 den lange erwarteten Bericht bzgl. Stand und Ergebnisse der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 bis 4 des Bundesteilhabegesetzes (Drucksache 20/5150).

Das Netzwerk für Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz (NITSA e.V.) hat den darin enthaltenen Abschlussbericht der Kienbaum Consultants International GmbH zur wissenschaftlichen Untersuchung der modellhaften Erprobung der Verfahren und Leistungen nach Artikel 1 Teil 2 des Bundesteilhabegesetzes vom 29. Dezember 2016 einschließlich ihrer Bezüge zu anderen Leistungen der sozialen Sicherung ausgewertet und zum Regelungsbereich „Einkommens- und Vermögensheranziehung“ eine Stellungnahme verfasst:

Link zur Langfassung der Stellungnahme: PDF-Dokument

Kurzfassung

Der Abschlussbericht der Kienbaum Consultants International GmbH zeigt, dass die reformierte Anrechnung von Einkommen und Vermögen zu einem starken Rückgang von Leistungsberechtigten mit Einkommenseinsatz geführt hat. Von ursprünglich 74 % der Eingliederungshilfeempfänger sind es nunmehr nur noch 3 %. Gleichzeitig sank der durchschnittliche monatliche Einkommenseinsatz auf ein Viertel von 342 € auf 86 €. Durch die Anrechnung von Einkommen wird folglich nur noch 1% der ursprünglichen Summe eingenommen.

Ebenso wenig stieg die Zahl der Leistungsberechtigten, im Gegenteil. Trotz angehobener Einkommens- und Vermögensfreigrenzen sank sogar die Zahl der Leistungsberechtigten in den Jahren 2019 und 2020. Der durch die Kostenträger prognostizierte Anstieg der Leistungsberechtigten hat sich nicht bewahrheitet.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es keinen einzigen Sachgrund für die Beibehaltung der Einkommens- und Vermögensheranziehung im SGB IX gibt. Die Einnahmen aus der Einkommensanrechnung sind nur noch marginal und stellen für das verbleibende Prozent der Zahlungspflichtigen eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung dar. Nicht einmal das Argument des Anstiegs der Leistungsberechtigten verfängt. Daher fordern wir die unverzügliche Abschaffung der Einkommens- und Vermögensheranziehung, zumal diese, wie der Abschlussbericht zeigt, Personen im Erwerbsalter mit ambulantem Hilfebedarf und hohen „besonderen Belastungen“ gegenüber dem alten Recht schlechter stellt.

Koalitionsvertrag macht Hoffnung

Deformierte AmpelEs ist vollbracht: SPD, Grüne und FPD habe sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt, der nach vier Jahren der Stagnation und Rückschritte, wieder frische Impulse für Menschen mit Behinderungen setzt.

Doch wie konkret wurden unsere Forderungen zur Bundestagswahl 2021 aus Sicht von Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf im Ampel-Koalitionsvertrag berücksichtigt?

Einkommens- und Vermögensanrechnung für Assistenzleistungen beenden!

Das Thema „Einkommens- und Vermögensanrechnung für Assistenzleistungen“ hat es immerhin in den Koalitionsvertrag geschafft, wenn auch nicht von der vollständigen Abschaffung der Einkommens- und Vermögensanrechnung die Rede ist:

„Wir nehmen die Evaluation des Bundesteilhabegesetzes ernst und wollen, dass es auf allen staatlichen Ebenen und von allen Leistungserbringern konsequent und zügig umgesetzt wird. Übergangslösungen sollen beendet und bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. […] Aufbauend auf der Evaluierung wollen wir weitere Schritte bei der Freistellung von Einkommen und Vermögen gehen.“ (S. 79)

Entscheidend wird hier sein, wie groß diese „weiteren Schritte bei der Freistellung von Einkommen und Vermögen“ sein werden. Die Koalitionäre müssen wissen, dass z.B. die Freistellung von Einkommen nicht geringer ausfallen kann, wie bei den Angehörigen von Pflegebedürftigen und den Eltern volljähriger behinderter Kinder (vgl. Angehörigen-Entlastungsgesetz).

Nicht wiederholen dürfen sich die leeren Versprechungen der SPD in der großen Koalition 2013 – 2017, die „Menschen, die aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur eingeschränkte Möglichkeiten der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft haben, aus dem bisherigen ‚Fürsorgesystem‘ herausführen“ wollte (Koalitionsvertrag 2013). Stattdessen ist das Bundesteilhabegesetz herausgekommen, das wie zuvor den Duktus der Sozialhilfe aufweist und weiterhin hohe Beiträge aus eigenem Einkommen und Vermögen fordert.

Kostenvorbehalt abschaffen, Wunsch- und Wahlrecht stärken!

Auch unsere Forderung nach Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts findet sich im Koalitionsvertrag wieder:

„Wir werden Hürden, die einer Etablierung und Nutzung des Persönlichen Budgets entgegenstehen oder z. B. das Wunsch- und Wahlrecht unzulässig einschränken, abbauen.“ (S. 79)

„Bei der intensivpflegerischen Versorgung muss die freie Wahl des Wohnorts erhalten bleiben. Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) soll darauf hin evaluiert und nötigenfalls nachgesteuert werden. Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.“ (S. 81)

Hier wird sich erst zeigen müssen, was die Koalitionäre konkret unter „unzulässiger“ Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts verstehen. Der Kostenvorbehalt gehört definitiv dazu. Erfreulich ist die Klarstellung, dass auch bei der intensivpflegerischen Versorgung die freie Wahl des Wohnorts erhalten bleiben muss. Eine Erkenntnis, der sich  Jens Spahn und die CDU/CSU bis zum Schluss zu entziehen versuchten.

Was es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft hat

Bedauerlicherweise findet sich im Koalitionsvertrag kein Wort zum Zwangspoolen von Assistenzleistungen, zur Assistenz für ehrenamtliche Tätigkeit von Assistenznehmern und der Assistenz im Krankenhaus. Gerade mit Blick auf die nach wie vor ungenügend regulierte Assistenz im Krankenhaus müssen noch zeitnah Nachbesserungen erfolgen.

Auch wenn nicht alle unsere Forderungen erfüllt wurden, so macht der Koalitionsvertrag zumindest Hoffnung. Es gibt wieder Anknüpfungspunkte für einen konstruktiven Austausch mit den politischen Entscheidern. Wir freuen uns auf diesen Dialog.

Nur wo Teilhabe drauf steht, ist auch Teilhabe drin?

faviconZwei Tage vor Weihnachten „beglückte“ das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Vereine und Verbände der Menschen mit Behinderungen mit einem Referentenentwurf zum sog. Teilhabestärkungsgesetz. Dabei räumte das BMAS den Vereinen und Verbänden keine vier Wochen zu einer Stellungnahme ein, und das über die Weihnachtsfeiertage. Liebes BMAS, echte Teilhabe geht anders.

Die Notwendigkeit zu einem Teilhabestärkungsgesetz – gerade einmal vier Jahren nach Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) – zeigt deutlich, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention vorschreibt, nach wie vor in Deutschland nicht umgesetzt ist.

Aber von den grundlegenden und bekannten Teilhabeverhinderungstatbeständen ist nach wie vor nichts zu lesen im Referentenentwurf. Wo Teilhabe drauf steht, sollte auch Teilhabe drin sein! Daher fällt unsere Stellungnahme zum Teilhabestärkungsgesetz wenig schmeichelhaft aus.

NITSA-Mitgliederversammlung

faviconAm 21. November 2020 fand die jährliche Mitgliederversammlung von NITSA e.V. statt. Neben den üblichen Formalitäten, wie dem Geschäftsbericht und Kassenbericht des Jahres 2019 wurde der Vorstand neu gewählt.

Im Wesentlichen gibt es hier keine Veränderungen zu vermelden. Die drei gleichberechtigten Vorstände sind und bleiben Klaus Mück, Jens Merkel und Harry Hieb.

Auch die Beisitzer des Vorstandes wurden neu gewählt. Hier gibt es ebenfalls keine wesentlichen Veränderungen. Die neuen/alten Beisitzer*innen sind:

  • Matthias Grombach
  • Jenny Bießmann
  • Karin Brich
  • Thomas Schulze zur Wiesch

Vakant blieb der 5. Beisitzerposten, den Dr. Corina Zolle inne hatte bis sie im April 2020 verstarb. Alle gewählten Personen nahmen die Wahl und ihr neues/altes Amt an.

Auf Punkt 10 der Tagesordnung stand die Diskussion aktueller Themen, denen sich NITSA e.V. in nächster Zeit annehmen möchte. Hierzu gehört vor allem das Bundesteilhabegesetz, welches in der Umsetzung wachsam beobachtet werden muss.

Außerdem die Assistenz im Krankenhaus, die aktuell für Nutzer*innen von Assistenzdiensten und Pflegediensten bisher nicht oder nur in Einzelfällen genehmigt wurde.

Jenny Bießmann machte noch einmal auf die Umfrage zum Thema Lohn- und Gehalt in der persönlichen Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell aufmerksam. Es geht bei dieser Umfrage darum, herauszufinden, welche Löhne und Zuschläge Assistenznehmer*innen in ganz Deutschland für ihre Teams bewilligt bekamen.

Da kam auch das Thema Tarifvertrag für die persönliche Assistenz noch einmal zur Sprache. So birgt ein Tarifvertrag oder gar der Anschluss an eine Gewerkschaft für Assistentinnen und Assistenten eine Vielzahl an Vor- und Nachteilen für das selbstbestimmte Leben mit persönlicher Assistenz. NITSA e.V. steht dabei bundeseinheitlichen Löhnen für Assistenzgeber*innen kritisch gegenüber, da auch die Lebenshaltungskosten nicht bundeseinheitlich sind (z.B. Wohnraum in Großstädten wie München besonders teuer). Allerdings müssen regionale Gleichheiten bestehen, um z.B. die Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten zu können und das Abwandern von Assistenzgeber*innen in Nachbarregionen mit besserer Entlohnung zu verhindern.

Auch die Corona-Pandemie beschäftigt die Arbeit von NITSA e.V. weiterhin. So wurde die Mitgliederversammlung erstmals vollständig digital abgehalten. Auf Nachfrage wies Jenny Bießmann noch einmal auf ihre Anfrage an den Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung hin, die gestellt wurde, damit Arbeitgeber*innen in der persönlichen Assistenz auch von den neuen Schnelltests profitieren können. Aufgrund Überlastung der angeschriebenen Personen ist in geraumer Zukunft keine Antwort zu erwarten.

Das Thema Schutzkleidung und die Verteilung im Fall einer Infektion wurde ebenfalls diskutiert. So ist nicht abschließend geklärt, wo sich Assistenznehmer*innen hinwenden können, wenn sie mit Corona infiziert sind und ihre Teams vor einer Ansteckung schützen müssen. Es gibt Anlaufstellen, wie z.B. das Gesundheitsamt der entsprechenden Stadt oder des Bezirks, die Schutzkleidung verteilen können, aber bisher sind dem Verein keine Fälle bekannt, in denen eine Inanspruchnahme versucht wurde. Auch einzelne Organisationen und Stiftungen können Schutzkleidung zur Verfügung stellen.

Ähnlich wie die Corona Pandemie beschäftigt auch das GKV-IPReG weiterhin. Hier gab es Input von Constantin Grosch und Laura Mench, wie in Zukunft Menschen mit Behinderung generell besser an Prozessen der Gesetzgebung und Richtlinienentwicklung (z.B. im G-BA) beteiligt werden können.

Abschließend bedankte sich der Verein für die Mitarbeit und freut sich auf die weitere gemeinsame Aktionen.

Euer NITSA-Vorstand

Was wäre, wenn …

Foto, das zwei Stapel, einen mit Fake-Bescheiden und einen mit Begleitschreiben, sowie versandfertige Briefe zeigt.… Bundestagsabgeordnete für ihre Assistent*innen in den Abgeordnetenbüros, wie Menschen mit Behinderungen, einen Kostenbeitrag aus ihrem eigenen Einkommen zahlen müssten? Dieser Frage ging NITSA e.V. Ende Januar nach und versendete an alle 709 Abgeordneten des Deutschen Bundestags einen Fake-Bescheid. „Sie haben einen anerkannten Bundestagsteilhabebedarf mit Anspruch auf Assistenzleistungen“, heißt es in dem Bescheid mit Bundesadler im Briefkopf. „Wir werden daher ab 01.01.2020 1.660 € von Ihrer monatlichen Entschädigung einbehalten. Dies entspricht jährlich 19.920 €.“ In trockenem Bürokratendeutsch wird den Abgeordneten die Anwendung der seit 2020 gültigen Einkommensanrechnung nach dem Bundesteilhabegesetz auf deren eigene Abgeordnetenentschädigung erläutert.

Wir wissen nicht, wie viele Abgeordnete aufgebracht den Telefonhörer in die Hand genommen und die Bundestagsverwaltung angerufen haben. Aber das Gefühl, nicht fair behandelt zu werden, können wir in jedem Fall gut nachvollziehen. Lange kann jedoch die Aufregung nicht angedauert haben. Denn bereits das zweite Blatt im Anhang des Schreibens offenbarte den Abgeordneten, dass sie lediglich einem zugegebenermaßen wenig lustigen Scherz aufgesessen sind.

In dem Begleitschreiben stellt NITSA e.V. klar, dass die neue Einkommensanrechnung nicht, wie immer wieder fälschlicherweise behauptet, zu einer generellen Verbesserung für die betroffenen Menschen führt. Die nunmehr fehlende Berücksichtigung der ausgeprägten Belastungen schwerstpflegebedürftiger Menschen, sowie regionaler Unterschiede (ortsübliche Miete) und individueller Belastungen (z.B. Kosten für ein behindertengerechtes Fahrzeug), führen in aller Regel zu einem höheren Kostenbeitrag als noch bis Ende 2019.

Während wir Menschen mit Behinderungen noch immer auf eine rasche Korrektur der fehlkonstruierten neuen Einkommensanrechnung warten, wurde im November letzten Jahres mit großer Mehrheit das Angehörigen-Entlastungsgesetz im Bundestag verabschiedet. Für Angehörige von Pflegebedürftigen gilt jetzt eine Einkommensgrenze von 100.000 € Jahreseinkommen, bis zu der Angehörige vom Unterhaltsrückgriff und einem Kostenbeitrag verschont bleiben. Für Eltern volljähriger behinderter Kinder wurde der Unterhaltsrückgriff sogar vollständig aufgehoben. Und wir Menschen mit Behinderungen? Für uns gilt nach wie vor eine Einkommensgrenze von gerade einmal 32.487 €. Soll das fair sein? Wohl kaum! Daher unser Appell an alle Bundestagsabgeordneten:

Es kann keine zwei Einkommensgrenzen für das gleiche Problem geben. Diese diskriminierende Ungleichbehandlung von selbst betroffenen Menschen mit Behinderungen gegenüber Angehörigen und Eltern volljähriger behinderter Kinder muss unverzüglich abgestellt werden und für alle die Einkommensgrenze i.H.v. 100.000 € gelten, und dies solange grundsätzlich Kostenbeiträge gefordert werden.

Link zum Fake-Bescheid

Link zum Begleitschreiben

Weiterer BTHG-Giftzahn gezogen – Wurzelbehandlung dennoch notwendig

faviconHeute wurden alle unsere Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) auf der offiziellen Seite der BTHG-Umsetzungsbegleitung beantwortet.

Antworten zu den Fragen aus dem Bereich der Einkommens- und Vermögensanrechnung

  • Frage #1000: Vermögensanrechnung ohne Härtefallregelung
  • Frage #1001: Einkommenseinbußen durch fehlende Berücksichtigung örtlicher Verhältnisse
  • Frage #1002: Einkommenseinbußen durch fehlende Regelung
  • Frage #1003: Bestandsschutz lückenhaft

Antwort zur Frage bzgl. des Zwangspoolens

  • Frage #1004: Zwangspoolen im ambulanten Bereich

Antwort zur Frage bzgl. Budgetverordnung

  • Frage #1006: Budgetverordnung außer Kraft

Neben der bereits angekündigten Wiedereinführung der Härtefallregelung bei der Vermögensanrechnung (siehe Frage #1000 und NITSA-Nachricht „Erster BTHG-Giftzahn gezogen“) stellt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in seiner Antwort bzgl. der Budgetverordnung klar, dass Budgets nach wie vor zu Monatsbeginn ausgezahlt werden müssen, und nicht, wie neuerdings von manchen Leistungsträgern praktiziert, zum Monatsende. Wir danken für diese Klarstellung.

Dennoch sind viele Antworten unbefriedigend. So wird beispielsweise mit der Antwort zur Frage „Einkommenseinbußen durch fehlende Berücksichtigung örtlicher Verhältnisse“ deutlich, dass „die Festsetzung der Grenzen, ab der ein Beitrag aufzubringen ist, unter Beachtung der bisherigen durchschnittlichen Einkommenssituation und der durchschnittlichen Ausgaben der Leistungsbezieher erfolgte.“ Es ist folglich nicht überraschend, dass viele Leistungsberechtigte, die diesem Durchschnitt nicht genügen, durch die neue Einkommensanrechnung schlechter gestellt werden. Weiterhin wird deutlich, dass Menschen mit Behinderungen nur untereinander verglichen werden. Das durchschnittliche Einkommen aller Erwerbstätigen spielt bei dieser Betrachtung keine Rolle, ebenso wenig die Frage, warum Menschen mit Behinderungen bestenfalls durchschnittlich verdienen dürfen, um einer Einkommensanrechnung zu entgehen.

Daher wird sich das BTHG einer weiteren schmerzhaften Wurzelbehandlung unterziehen müssen. Wir bleiben dran!

Erster BTHG-Giftzahn gezogen

faviconIm Dezember 2018 stellte NITSA e.V. auf der offiziellen Seite zur BTHG-Umsetzungsbegleitung Fragen zu Verschlechterungen, die erst durch das Bundesteilhabegesetz verursacht wurden (siehe NITSA-Blog „Dem BTHG die Giftzähne ziehen“). U.a. wollten wir wissen, warum die Härtefallregelung zur Vermögensanrechnung aus § 90 SGB XII nicht in das BTHG übernommen wurde (siehe Beitrag #1000). Unter diese Härtefallregelung fallen beispielsweise Schmerzensgelder, Ansparungen aus Blindengeld oder bislang geschonte Vermögen z.B. für den Erwerb eines notwendigen Kraftfahrzeugs. D.h., der Sozialhilfeträger durften den Einsatz oder die Verwertung dieser Vermögen nicht fordern.

Zumindest zu diesem Sachverhalt gibt es eine erfreuliche Entwicklung. Im April 2019 wurde das „Gesetz zur Änderung des Neunten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Rechtsvorschriften“ vom Kabinett verabschiedet, das u.a. die fehlende Härtefallregelung im § 139 SGB IX ergänzt:

„Die Eingliederungshilfe darf ferner nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde.“

Diese Änderung tritt rechtzeitig zum 1. Januar 2020 in Kraft, sodass die Härtefallregelung unterbrechungsfrei auch für Leistungsberechtigte des SGB IX fortbesteht. Damit wurde ein erster BTHG-Giftzahn gezogen. Weitere müssen folgen!

BMAS-Erläuterung zum Einkommensbestandsschutz erneut überarbeitet

faviconDas Bundesteilhabegesetz (BTHG) sieht einen Einkommensbestandsschutz gem. § 150 SGB IX für diejenigen Fälle vor, „in denen sich ausnahmsweise zum Tag des Systemwechsels [01.01.2020] eine höhere Eigenleistung ergeben würde“.

Wie NITSA e.V. am 29.09.2018 in dem Beitrag „Einkommensbestandsschutz zum Nachteil der Betroffenen neu interpretiert“ berichtete, vertrat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) noch im September die Auffassung, dass diese Besitzstandsregelung nicht für Personen gelte, „die über den 31. Dezember 2019 hinaus Eingliederungshilfe beziehen und deren Einkommen sich zu einem späteren Zeitpunkt erhöht.“ Hiernach hätte eine simple Tariferhöhung genügt, um den Bestandsschutz bereits nach wenigen Monate wieder zu verlieren.

Am 25.10.2018 vollzog nun das BMAS eine Rolle rückwärts. Die restriktive und für die Betroffenen äußerst nachteilige Auslegung wurde überarbeitet (siehe BTHG-FAQ, Stand 25.10.2018). Die Frage „Welche Schutzwirkung entfaltet die Besitzstandsregelung konkret?“ wird inzwischen wie folgt beantwortet:

Mit der Übergangsregelung in § 150 SGB IX (Besitzstandsregelung) wird sichergestellt, dass Menschen mit Behinderungen durch den ab 1. Januar 2020 aufzubringenden Beitrag nicht höher belastet werden, als nach dem bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Recht.

Diese Regelung gilt nur

– für Personen, die allein durch den Systemwechsel vom 31. Dezember 2019 zum 1. Januar 2020 (bei „unveränderten Verhältnissen“ am Stichtag des Systemwechsels) eine höhere Eigenleistung erbringen müssten, sowie

– für Personen, die bis zum 31. Dezember 2019 keine Eigenleistung erbringen müssen und nach dem neuen Recht ab 1. Januar 2020 einen Beitrag aufbringen müssten.

Die Regelungen des Rechts zum Einsatz des Einkommens nach dem SGB XII gelten in diesen Fällen solange – auch bei Einkommensveränderungen -, bis das neue Recht zu günstigeren Folgen für den Leistungsberechtigten führt.

Die Übergangsregelung gilt jedoch nicht für Personen, die über den 31. Dezember 2019 hinaus Eingliederungshilfe beziehen und zum Stichtag des Systemwechsels weder nach bisherigem noch nach neuem Recht eine Eigenleistung erbringen müssen. Wenn deren Einkommen sich zu einem späteren Zeitpunkt erhöht, ist das neue Recht anzuwenden.

„Besitzstand“ bedeutet nicht, dass die am 31. Dezember 2019 aufzubringende Eigenleistung dauerhaft unverändert bleibt.

Die Spannweite der möglichen Auslegungen zeigt, wie unpräzise der Gesetzestext zum § 150 SGB IX formuliert wurde. Auf diese Weise kann für die Betroffenen keine Rechtssicherheit hergestellt werden, zumal Kostenträger nicht an Erklärungen des BMAS gebunden sind. Das BMAS verfügt über keine Weisungsbefugnis.

NITSA e.V. besteht daher auf eine Korrektur der gesetzlichen Bestimmungen zum Einkommenseinsatz ab 2020. Einkommenseinbußen müssen durch eine geänderte Systematik bei der Einkommensanrechnung verhindert werden und nicht durch einen lückenhaften Bestandsschutz.

Einkommensbestandsschutz zum Nachteil der Betroffenen neu interpretiert

faviconDas Bundesteilhabegesetz (BTHG) sieht einen Bestandsschutz (§ 150 SGB IX) bei der Einkommensanrechnung für diejenigen Fälle vor, „in denen sich ausnahmsweise zum Tag des Systemwechsels [01.01.2020] eine höhere Eigenleistung ergeben würde“. Betroffen hiervon sind u.a. blinde und schwerstpflegebedürftige Menschen mit einem Pflegegrad 4 oder 5, deren besondere finanzielle Belastungen bislang durch die Regelung des § 87 Abs. 1 SGB XII berücksichtigt wurden (Beschränkung des Eigenbeitrags auf max. 40% des die Einkommensgrenze übersteigenden Einkommens).

NITSA e.V. stellte die Schutzwirkung dieses Bestandsschutzes von Anfang an in Frage, da das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) durch eine völlig schwammige Interpretation des Bestandsschutzes selbst Zweifel an dessen Wirkung säte. In der BTHG-FAQ des BMAS (Stand 01.01.2018) wurde die Frage „Welche Schutzwirkung entfaltet die Besitzstandsregelung konkret?“ noch bis August 2018 wie folgt beantwortet:

Mit der Übergangsregelung in § 150 SGB IX (Bestandsschutz) wird sichergestellt, dass Menschen mit Behinderungen durch den neu berechneten aufzubringenden Beitrag nicht höher belastet werden als nach dem bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Recht. Diese Regelung gilt nur für Personen, die zuvor Leistungen nach dem SGB XII erhalten haben.

Genau wie die neu ins reformierte Leistungssystem hinzugekommenen Menschen mit Behinderungen haben auch Menschen mit Behinderungen, die durch eine wesentliche Einkommensveränderung (nach einer zwischenzeitlichen Einkommensreduzierung) nach dieser Regelung keinen Anspruch darauf, auf Dauer nach dem alten Recht behandelt zu werden. Damit können Menschen mit Behinderungen darauf vertrauen, dass bei unveränderten Verhältnissen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des BTHG nicht bloß aufgrund der Rechtsänderung bei der Einkommensheranziehung weniger Geld für ihre angemessene Lebensführung zur Verfügung zu haben. Eine darüberhinausgehende Schutzwirkung ist mit der Besitzstandsregelung nicht beabsichtigt.

Überraschend aktualisierte das BMAS am 21.09.2018 seine Online-Version der FAQ (BTHG-FAQ, Stand 15.09.2018) und verdeutlicht klar unsere Befürchtung, dass der Bestandsschutz keine echte Schutzwirkung entfaltet:

Mit der Übergangsregelung in § 150 SGB IX (Besitzstandsregelung) wird sichergestellt, dass Menschen mit Behinderungen durch den ab 1. Januar 2020 aufzubringenden Beitrag nicht höher belastet werden als nach dem bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Recht. Diese Regelung gilt nur für Personen, die allein durch den Systemwechsel vom 31. Dezember 2019 zum 1. Januar 2020 (bei „unveränderten Verhältnissen“) eine höhere Eigenleistung erbringen müssten. Auch für diejenigen, die bis zum 31. Dezember 2019 keine Eigenleistung erbringen müssen und nach dem neuen Recht ab 1. Januar 2020 einen Beitrag aufbringen müssten, gilt die Besitzstandsregelung.

Die Besitzstandsregelung gilt jedoch nicht für Personen, die über den 31. Dezember 2019 hinaus Eingliederungshilfe beziehen und deren Einkommen sich zu einem späteren Zeitpunkt erhöht.

Die Antwort lässt nunmehr keinen Interpretationsspielraum mehr übrig: Eine simple Einkommenserhöhung, die der Leistungsberechtigte z.B. im Falle einer Tariferhöhung oder bei angeordneten Überstunden nicht einmal verhindern kann, kostet den Bestandsschutz. Das wird i.d.R. wenige Monate nach dem 01.01.2020 der Fall sein mit der Folge, dass der Leistungsberechtigte dann doch in die höchst nachteilige neue Einkommensanrechnung gezwungen wird.

NITSA e.V. erwartet von Seiten des BMAS eine Korrektur des BTHG, die sicherstellt, dass der betroffene Personenkreis zumindest nicht schlechter gestellt wird im Vergleich zum bis Ende 2019 gültigen Recht, wenn schon das BMAS nicht in der Lage war, auch für diesen Personenkreis Verbesserungen herbeizuführen. Selbstverständlich betrifft diese Forderung auch Leistungsberechtigte, die erst nach 2019 Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten werden.

Ein wie oben formulierter Bestandsschutz schafft nicht das Vertrauen, das man mit diesem Begriff allgemein verbindet und auch erwartet.